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Die Apfelsine des Waisenknaben

(frei nach Charles Dickens)

 

Vor nicht gar nicht so langer Zeit, da war ein Waisenhaus ein schrecklicher Ort.

Lange Stunden täglich mussten die Kinder dort arbeiten. Sie mussten für ihren Unterhalt und ihre Verpflegung so gut es ging selbst aufkommen. Niemand nahm Anstoß an dieser Regel damals.

Sie arbeiteten im Garten, auf dem Feld, in der Küche, im Stall, überall dort, wo immer der Leiter des Waisenhauses sie hin schickte, mussten sie ihren Frondienst leisten.

Kein Tag brachte Abwechslung.

Besonders schlimm waren die Sonntage. An diesen mussten die Kinder schneller oder länger arbeiten, um die versäumten Stunden des Kirchganges wieder aufzuholen.

 

Im ganzen Jahr gab es nur einen Ruhetag. Das war der Weihnachtstag.

Dann bekam jedes Kind vom Waisenvater eine Apfelsine zum Christfest.

Das war alles! Keine Süßigkeiten, kein Spielzeug.

Aber auch diese eine Apfelsine bekam nur derjenige, der sich im Laufe des Jahres nichts hatte zuschulden kommen lassen und immer folgsam war und nicht den Argwohn des Waisenvaters erregt hatte.

 

Diese Apfelsine an Weihnachten verkörperte die Sehnsucht eines ganzen Jahres.

 

Wieder einmal war das Christfest herangekommen.

Die Kinder mussten am Waisenvater vorbei schreiten und dieser überreichte Ihnen feierlich ihre Apfelsine.

Als die Reihe an einen kleinen Jungen kam, schüttelte der Waisenvater den Kopf und wies ihn an, in der Ecke zu stehen und bei der weiteren Verteilung zu zu sehen.

Das war seine Strafe dafür, dass er eines Tages im vergangenen Sommer aus dem Waisenhaus hatte weglaufen wollen.

Als die Geschenkverteilung vorüber war, durften die anderen Kinder im Hofe spielen. Er aber musste in den Schlafraum gehen und dort den ganzen Tag über im Bett liegen bleiben.

 

Nach einer Weile waren Schritte im Schlafraum zu hören. Eine Hand zog die Bettdecke weg, unter der der Junge sich verkrochen hatte und beschämt und tieftraurig seinen Tränen freien Lauf gelassen hatte.

Der Knabe blickte auf – ein anderer Waisenjunge stand an seinem Bett und hielt ihm eine geschälte Apfelsine entgegen.

Die Gedanken im Kopf de Jungen rannten und überschlugen sich fast:

"Wo sollte eine überzählige Apfelsine nur hergekommen sein; war sie gestohlen und setzten sie damit ihr Glück fürs nächste Jahr aufs Spiel?"

Der Knabe sah die Frucht unsicher an und nahm die Apfelsine schließlich doch. Er musste fest zupacken, damit sie nicht aus einander fiel. Nun erst kam ihm zu Bewusstsein, dass die Apfelsine bereits geschält war.

Erneut stiegen ihm Tränen in seine Augen, diesmal jedoch vor Dankbarkeit und Rührung und Gückseligkeit

 

Die anderen Kinder hatten sich nach der Geschenkverteilung im Hof versammelt; jedes hatte seine Apfelsine sorgsam geschält und ein einzelnes Stückchen abgetrennt. Diese abgetrennten Stücke hatten sie sorgfältig zu einer neuen, schönen runden Apfelsine zusammengesetzt, damit auch der Knabe Weihnachten haben solle.

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